Basiert Humanismus auf Eigennutz?
Verfasst: Sonntag 13. Februar 2022, 19:19
Christel schrieb:
Schmidt Salomon hat nie behauptet was du hier eingestellt hast, so als wäre Eigennutz ein rücksichtsloses egoistisches Merkmal von Humanisten. Das ist völliger Blödsinn und ich kann mir nicht vorstellen, das du das bei dieser Leseprobe nicht gesehen hast.
Hier eine Leseprobe aus seinem Buch "Manifest des evolutionären Humanismus" (Ungekürzt und nicht verfälscht)
Michael Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären Humanismus
„Brot für die Welt – die Wurst bleibt aber hier!“
Die anthropologischen Fundamente einer evolutionär-humanistischen Ethik „Leben“ lässt sich definieren als ein auf dem „Prinzip Eigennutz“
basierender Prozess
Alle Organismen, die heute auf dem blauen Planeten leben, verdanken ihre Existenz dem eigennützigen Streben ihrer Vorfahren nach Vorteilen im
Kampf um Ressourcen und genetischen Fortpflanzungserfolg.
Evolutionäre Humanisten geben freimütig zu, dass sich die stolzen Mitglieder der Spezies Homo sapiens in ihren Grundzielen nicht von der gemeinen Spitzmaus unterscheiden. Wie diese werden auch wir mit der tief verankerten Veranlagung geboren, eigene Lust zu steigern und eigenes Leid zu minimieren. Dem widerspricht nicht, dass viele Menschen in ihrem Leben Strategien wählen, die sich für sie (und ihr Umfeld) als „objektiv“ lustmindernd oder schädigend erweisen.
Es wäre ein Fehlschluss, würde man aus dem „Prinzip Eigennutz“ ableiten, dass Menschen „zweckrationale Spieler“ sind, die in ihrem Denken und Handeln konsequent darauf ausgerichtet sind, ihren eigenen „objektiven Nutzen“ zu optimieren. Vielmehr hat die geschichtlich gut dokumentierte Neigung des Menschen zum Irrationalismus gezeigt, dass sich der Eigennutz auch in die diametral entgegengesetzte Richtung lenken lässt.
Aus rein biologischer Perspektive ist es beispielsweise unerklärlich, dass sich Gläubige – die meisten von ihnen Jahrzehnte vor dem natürlichen Ende ihrer Fortpflanzungsfähigkeit! – zu Ehren ihres „Gottes“ in die Luft sprengen. Wollen wir solche Handlungsweisen begreifen, müssen wir die soziobiologische Fassung des „Prinzips Eigennutz“ um kulturelle Variablen erweitern.
Da der Eigennutz als Grundprinzip des Lebens die Quelle aller menschlichen Empfindungen und Entscheidungen ist, wäre es ein sinnloses Unterfangen, ihn als „moralisch anrüchiges“ Rudiment der Evolution überwinden zu wollen. Vielmehr sollten wir so klug sein, ihn als die entscheidende Triebkraft des Lebens in unsere ethischen Konzepte einzubauen, denn er allein ist es, der soziale Innovationen möglich macht.
Ideen, die mit den eigennützigen Interessen der Menschen nicht korrespondieren, werden sich in der Gesellschaft niemals durchsetzen können, so gut begründet oder „ehrenhaft“ sie auch immer erscheinen mögen. Eigennutz tritt schon in der nichtmenschlichen Natur in höchst unterschiedlichen Formen auf – nicht nur als rücksichtsloses Durchsetzen eigener Interessen auf Kosten Anderer (beispielsweise wenn ein Löwe, der ein Rudel übernimmt, alle Jungtiere tötet, um dadurch seine eigenen Gene besser verbreiten zu können – die Löwinnen des Rudels
werden nach der „Ermordung“ ihrer Jungen gleich wieder fruchtbar…), sondern auch in Form einer – mitunter im wahrsten Sinne des Wortes! – „aufopferungsvollen“ Brutpflege. (Das vielleicht markanteste Beispiel dafür bieten die Gallmücken aus der Familie Cecidomyidae.
Unter bestimmten Bedingungen bringen die Weibchen dieser Art Junge ohne die Befruchtung durch ein Männchen hervor. Allerdings legen sie keine
Eier, ihre Nachkommen entwickeln sich vielmehr lebend im Körper der Mutter, wobei sie diesen nach und nach buchstäblich von innen her auffressen. Die „Mutterliebe“ dieser weiblichen Gallmücken ist kaum zu überbieten – und doch handelt es sich hierbei bloß um einen Akt des „genetischen Eigennutzes“. Durch die „Aufopferung“ ihres eigenen Lebens „gelingt“ es der Gallmücke, die eigenen Erbinformationen erfolgreich
an die nächste Generation weiterzugeben.)
Eigennutz ist auch die Quelle der verschiedenen Formen von kooperativaltruistischem Verhalten, das sozial lebende Tiere selbst gegenüber genetisch nicht verwandten Artgenossen zeigen. Grund: Es ist für das Individuum auf lange Sicht gewinnbringender, sich kooperativ nach dem Fairnessprinzip („Wie du mir, so ich dir“) zu verhalten, d. h. gewisse Ressourcen mit anderen zu teilen, als Kooperationspartner rücksichtslos zu übervorteilen. Individuen, die sich stets unkooperativ verhalten und sich nur auf den kurzfristigen Gewinn hinorientieren, werden schnell isoliert und stehen am Ende schlechter da als ihre kooperationsbereiten Artgenossen.
Der hier zum Vorschein kommende Selektionsvorteil des kooperativen Verhaltens konnte im Rahmen zahlreicher spieltheoretischer Modelle nachgewiesen werden. Allerdings zeigten diese Studien auch die Grenzen der strategischen Kooperationsbereitschaft: Diejenigen, die sich stets kooperativ verhielten, schnitten am Ende schlechter ab, als jene, die ihre Kooperationsbereitschaft von dem potentiellen Einfluss ihres Gegenübers abhängig machten. Das biologische „Prinzip Eigennutz“ empfiehlt dem Individuum nämlich eine heimtückische Strategie: „Sei kooperativ gegenüber höher- oder gleichrangigen Individuen – sie könnten dir gefährlich werden, man trifft sich im Leben ja meist noch ein zweites Mal! – und beute all jene erbarmungslos aus, die über keinerlei Macht und Einfluss verfügen!“
Die drei bisher genannten Varianten des Eigennutzes –
a) rücksichtsloses Durchsetzen eigener Interessen auf Kosten Anderer,
b) altruistisches Verhalten (Verzicht auf Vorteile) zu Gunsten von Verwandten („Blut ist dicker als Wasser“) und potentiellen
Sexualpartnern (genetischer Eigennutz) sowie
c) strategische Kooperationsbereitschaft gegenüber gleich- und höherrangigen Artgenossen – decken allerdings nicht das ganze Spektrum des eigennützig-altruistischen Verhaltens unserer Spezies ab. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Formen von hilfsbereitem (altruistischem) Verhalten, die nicht direkt über genetischen Eigennutz oder strategische Kooperationsbereitschaft zu erklären sind. So war die hohe Spendenbereitschaft nach der Flutkatastrophe in Südostasien (Ende 2004) keineswegs allein auf strategisches Denken zurückzuführen – auch wenn die Hoffnung, dass einem selbst einmal geholfen werde, falls man ebenfalls in eine Notsituation geraten sollte (Fairnessprinzip), hierbei unbewusst mitspielte.
Dass sich in diesem Fall so viele am Geschehen unbeteiligte Menschen zur Hilfe motiviert fühlten, ist wesentlich begründet in unserer ausgeprägten Empathiefähigkeit. Wir können emotional nachempfinden, was andere Menschen in Notlagen durchmachen müssen, wir leiden buchstäblich mit ihnen mit. Da auch Mitleid in gewissem Sinne Leid bedeutet, liegt es in unserem eigennützigen Interesse, es zu überwinden. Dies können wir tun, indem wir das Leid der Anderen entweder verdrängen (die Nachrichtensendung abschalten), oder aber indem wir (beispielsweise über Spenden oder Hilfsaktionen) etwas dazu beitragen, dass dieses Leid reduziert wird.
Evolutionäre Humanisten erkennen nicht nur an, dass Handeln aus Mitleid ein eigennütziges Verhaltensmuster darstellt, sie wissen auch, dass bereits die Fähigkeit, mitleiden zu können, ein Produkt eigennütziger evolutionärer Überlebensstrategien ist. Die stete Zunahme des Gehirnwachstums, die im Verlauf der hominiden Entwicklung beobachtet werden kann, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Träger komplexerer Gehirne wegen ihrer höheren sozialen Intelligenz Vorteile gegenüber einfacher strukturierten Artgenossen besaßen. Die Fähigkeit, die vielschichtigen Rollendifferenzierungen innerhalb einer sozialen Gruppe zu durchschauen und für sich nutzbar machen zu können, bedeutete einen entscheidenden Überlebensvorteil. Nur wer sich in die Bedürfnislagen seiner Artgenossen hineinversetzen konnte, wusste, wann er mit wem wie kooperieren musste, wen man gefahrlos übers Ohr hauen konnte und wen man besser umschmeicheln sollte, um seinen Zielen näher zu kommen. Das evolutionär gewachsene Empathievermögen war die Voraussetzung für erfolgreiches Lügen, Betrügen, Kooperieren und Intrigen-Spinnen und schuf – quasi als Nebenwirkung – die Basis für ein durch Mitleid (und Mitfreude!) motiviertes altruistisches Verhalten.
Ohne unsere Fähigkeit, mitleiden und uns mitunter auch mitfreuen zu können, wären wir nicht in der Lage, uns bei einem Spielfilm zu amüsieren, noch wäre menschliche Kultur überhaupt möglich. Insofern handelte Arthur Schopenhauer durchaus weitsichtig, als er das Phänomen des Mitleids ins Zentrum seiner Ethik rückte. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass unserem Empathievermögen deutliche Grenzen gesetzt sind:
• Erstens ist die unter Kleingruppenverhältnissen entstandene Empathiefähigkeit abhängig von konkreten Erfahrungen und daher nur schwerlich auf abstrakte Größenordnungen übertragbar. (Die vielen Hunderttausende von Kindern, die Jahr für Jahr an den Folgen von Unterernährung sterben, bleiben für uns eine abstrakte Zahl, die wir leicht verdrängen können; nicht so hingegen die Opfer der Flutkatastrophe von 2004, die über das Fernsehen gewissermaßen direkt in unsere Wohnzimmer gespült wurden. Durch die allgegenwärtigen Bilder wurden sie zu einem virtuellen Teil
unserer emotionalen Bezugsgruppe, was fast zwangsläufig eine hohe Anteilnahme und Hilfsbereitschaft auslöste.)
• Zweitens: Wenn unser Mitgefühl tatsächlich angesprochen wird, neigen wir dazu, unser Mitleid eher mittels symbolischer Gesten abzuarbeiten, anstatt wirkliche Reformen einzuleiten, die uns womöglich selbst ins Fleisch schneiden könnten (so könnte man die sog. „Entwicklungshilfe“ durchaus unter das Motto stellen: „Brot für die Welt – die Wurst bleibt aber hier!“).
• Drittens: Auch wenn das Empathievermögen ein universelles Erbe unserer biologischen Evolution ist (nur wenige Menschen, darunter viele Gewaltverbrecher, sind aufgrund hirnorganischer Schädigungen oder Anomalien nicht zur emotionalen Perspektivübernahme befähigt), kann es doch mithilfe von Ideologien zumindest partiell ausgeschaltet werden.
So gelang es der Nazipropaganda über die Darstellung von Juden als „Untermenschen“, „Ungeziefer“ oder „Giftpilze“, große Teile der
Deutschen so stark zu indoktrinieren, dass sie jegliches Mitgefühl gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe verloren.
Noch heute wird diese Strategie der Deindividuation(Entpersonalisierung) gerne angewandt, um Menschen durch die Ausschaltung ihres Empathievermögens „scharf“ zu machen. Es bestimmt nicht von ungefähr die Grundausbildung militärischer Eliteeinheiten, dass deren Mitglieder darauf trainiert werden, sowohl sich selber als auch den potentiellen Gegner nicht als Personen mit individuellen Träumen, Hoffnungen, Ängsten und Wünschen wahrzunehmen.
Und natürlich gehört es auch zu den wichtigsten Kniffen eines geschickten Diktators bzw. „geistigen Führers“, dass er seinen weltanschaulichen oder politischen Konkurrenten systematisch entmenschlicht.
Wer zu einem „heiligen Krieg“ oder einen „Kreuzzug gegen das Böse“ aufruft, der tut gut daran, die Gegner nicht als Menschen mit menschlichen und allzumenschlichen Eigenschaften zu schildern, sondern sie auf Merkmale wie „Ungläubige“ oder „eiskalte Terroristen“ zu reduzieren.
Schlucken die Untergebenen diese Botschaft, so lassen sie in der Konfrontation mit dem „Feind“ jedes Mitgefühl vermissen. Die sadistische Art, in der feindbildbeseelte amerikanische Soldaten unlängst ihre irakischen Gefangenen folterten, spricht hier eine deutliche Sprache. (Das Gleiche gilt selbstverständlich für die islamischen Gotteskrieger, die im Umgang mit ihren Geiseln und Opfern jegliches Mitgefühl vermissen lassen.)
Während eigennützig-altruistisches Verhalten schon im Tierreich beobachtet werden kann, ist die kulturelle / ideologische Überformung des Eigennutzes eine spezifisch menschliche Eigenschaft. Nur Menschen sind unter bestimmten Umständen dazu bereit, ihr Leben für eine „höhere Sache“ (ethische Überzeugung, politische Ideologie, Religion) aufs Spiel zu setzen.
Kein noch so phantasiebegabter Affe käme auf die Idee, für demokratischere Verhältnisse zu streiten, geschweige denn, dass er auf Bananen im Diesseits verzichten würde, weil er sich davon eine noch großartigere Belohnung im Jenseits erhoffte. Zwar kann die menschliche Kultur den biologisch vorgegebenen Eigennutz nicht überwinden, sie kann ihn aber doch in höchst unterschiedliche Erscheinungsformenpressen. Was wir persönlich als erstrebenswert ansehen, ist im höchsten Maße abhängig von kulturellen Vorgaben, von technischen Errungenschaften, Moden, Traditionen, Philosophien, Ideologien, Religionen usw. Anscheinend genügt es uns nicht, bloß in den Tag hinein zu leben, wir trachten danach, unserer Existenz einen „Sinn“ zu geben. Tragischerweise greifen wir dabei häufig auf Sinnrezepte zurück, die den Eigennutz in eine problematische Richtung lenken und daher weder dem Einzelnen noch der Allgemeinheit zum Vorteil gereichen.
https://www.alibri-buecher.de/docs/probe114.pdf
Evolutionärer Humanismus basiert also auf Eigennutz:
Du suchst dir einen dir passenden Satz aus einem Ausschnitt aus einer Buchvorstellung heraus und verstehst es dann meisterhaft die Tatsachen zu verdrehen und zu entstellen.Aha, so sieht also der Fortschritt aus.
Es gilt nicht mehr „Mach's wie Gott, werde Mensch“, sondern „Mensch, werde Spitzmaus und achte auf Deinen Eigennutz“.
Schmidt Salomon hat nie behauptet was du hier eingestellt hast, so als wäre Eigennutz ein rücksichtsloses egoistisches Merkmal von Humanisten. Das ist völliger Blödsinn und ich kann mir nicht vorstellen, das du das bei dieser Leseprobe nicht gesehen hast.
Hier eine Leseprobe aus seinem Buch "Manifest des evolutionären Humanismus" (Ungekürzt und nicht verfälscht)
Michael Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären Humanismus
„Brot für die Welt – die Wurst bleibt aber hier!“
Die anthropologischen Fundamente einer evolutionär-humanistischen Ethik „Leben“ lässt sich definieren als ein auf dem „Prinzip Eigennutz“
basierender Prozess
Alle Organismen, die heute auf dem blauen Planeten leben, verdanken ihre Existenz dem eigennützigen Streben ihrer Vorfahren nach Vorteilen im
Kampf um Ressourcen und genetischen Fortpflanzungserfolg.
Evolutionäre Humanisten geben freimütig zu, dass sich die stolzen Mitglieder der Spezies Homo sapiens in ihren Grundzielen nicht von der gemeinen Spitzmaus unterscheiden. Wie diese werden auch wir mit der tief verankerten Veranlagung geboren, eigene Lust zu steigern und eigenes Leid zu minimieren. Dem widerspricht nicht, dass viele Menschen in ihrem Leben Strategien wählen, die sich für sie (und ihr Umfeld) als „objektiv“ lustmindernd oder schädigend erweisen.
Es wäre ein Fehlschluss, würde man aus dem „Prinzip Eigennutz“ ableiten, dass Menschen „zweckrationale Spieler“ sind, die in ihrem Denken und Handeln konsequent darauf ausgerichtet sind, ihren eigenen „objektiven Nutzen“ zu optimieren. Vielmehr hat die geschichtlich gut dokumentierte Neigung des Menschen zum Irrationalismus gezeigt, dass sich der Eigennutz auch in die diametral entgegengesetzte Richtung lenken lässt.
Aus rein biologischer Perspektive ist es beispielsweise unerklärlich, dass sich Gläubige – die meisten von ihnen Jahrzehnte vor dem natürlichen Ende ihrer Fortpflanzungsfähigkeit! – zu Ehren ihres „Gottes“ in die Luft sprengen. Wollen wir solche Handlungsweisen begreifen, müssen wir die soziobiologische Fassung des „Prinzips Eigennutz“ um kulturelle Variablen erweitern.
Da der Eigennutz als Grundprinzip des Lebens die Quelle aller menschlichen Empfindungen und Entscheidungen ist, wäre es ein sinnloses Unterfangen, ihn als „moralisch anrüchiges“ Rudiment der Evolution überwinden zu wollen. Vielmehr sollten wir so klug sein, ihn als die entscheidende Triebkraft des Lebens in unsere ethischen Konzepte einzubauen, denn er allein ist es, der soziale Innovationen möglich macht.
Ideen, die mit den eigennützigen Interessen der Menschen nicht korrespondieren, werden sich in der Gesellschaft niemals durchsetzen können, so gut begründet oder „ehrenhaft“ sie auch immer erscheinen mögen. Eigennutz tritt schon in der nichtmenschlichen Natur in höchst unterschiedlichen Formen auf – nicht nur als rücksichtsloses Durchsetzen eigener Interessen auf Kosten Anderer (beispielsweise wenn ein Löwe, der ein Rudel übernimmt, alle Jungtiere tötet, um dadurch seine eigenen Gene besser verbreiten zu können – die Löwinnen des Rudels
werden nach der „Ermordung“ ihrer Jungen gleich wieder fruchtbar…), sondern auch in Form einer – mitunter im wahrsten Sinne des Wortes! – „aufopferungsvollen“ Brutpflege. (Das vielleicht markanteste Beispiel dafür bieten die Gallmücken aus der Familie Cecidomyidae.
Unter bestimmten Bedingungen bringen die Weibchen dieser Art Junge ohne die Befruchtung durch ein Männchen hervor. Allerdings legen sie keine
Eier, ihre Nachkommen entwickeln sich vielmehr lebend im Körper der Mutter, wobei sie diesen nach und nach buchstäblich von innen her auffressen. Die „Mutterliebe“ dieser weiblichen Gallmücken ist kaum zu überbieten – und doch handelt es sich hierbei bloß um einen Akt des „genetischen Eigennutzes“. Durch die „Aufopferung“ ihres eigenen Lebens „gelingt“ es der Gallmücke, die eigenen Erbinformationen erfolgreich
an die nächste Generation weiterzugeben.)
Eigennutz ist auch die Quelle der verschiedenen Formen von kooperativaltruistischem Verhalten, das sozial lebende Tiere selbst gegenüber genetisch nicht verwandten Artgenossen zeigen. Grund: Es ist für das Individuum auf lange Sicht gewinnbringender, sich kooperativ nach dem Fairnessprinzip („Wie du mir, so ich dir“) zu verhalten, d. h. gewisse Ressourcen mit anderen zu teilen, als Kooperationspartner rücksichtslos zu übervorteilen. Individuen, die sich stets unkooperativ verhalten und sich nur auf den kurzfristigen Gewinn hinorientieren, werden schnell isoliert und stehen am Ende schlechter da als ihre kooperationsbereiten Artgenossen.
Der hier zum Vorschein kommende Selektionsvorteil des kooperativen Verhaltens konnte im Rahmen zahlreicher spieltheoretischer Modelle nachgewiesen werden. Allerdings zeigten diese Studien auch die Grenzen der strategischen Kooperationsbereitschaft: Diejenigen, die sich stets kooperativ verhielten, schnitten am Ende schlechter ab, als jene, die ihre Kooperationsbereitschaft von dem potentiellen Einfluss ihres Gegenübers abhängig machten. Das biologische „Prinzip Eigennutz“ empfiehlt dem Individuum nämlich eine heimtückische Strategie: „Sei kooperativ gegenüber höher- oder gleichrangigen Individuen – sie könnten dir gefährlich werden, man trifft sich im Leben ja meist noch ein zweites Mal! – und beute all jene erbarmungslos aus, die über keinerlei Macht und Einfluss verfügen!“
Die drei bisher genannten Varianten des Eigennutzes –
a) rücksichtsloses Durchsetzen eigener Interessen auf Kosten Anderer,
b) altruistisches Verhalten (Verzicht auf Vorteile) zu Gunsten von Verwandten („Blut ist dicker als Wasser“) und potentiellen
Sexualpartnern (genetischer Eigennutz) sowie
c) strategische Kooperationsbereitschaft gegenüber gleich- und höherrangigen Artgenossen – decken allerdings nicht das ganze Spektrum des eigennützig-altruistischen Verhaltens unserer Spezies ab. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Formen von hilfsbereitem (altruistischem) Verhalten, die nicht direkt über genetischen Eigennutz oder strategische Kooperationsbereitschaft zu erklären sind. So war die hohe Spendenbereitschaft nach der Flutkatastrophe in Südostasien (Ende 2004) keineswegs allein auf strategisches Denken zurückzuführen – auch wenn die Hoffnung, dass einem selbst einmal geholfen werde, falls man ebenfalls in eine Notsituation geraten sollte (Fairnessprinzip), hierbei unbewusst mitspielte.
Dass sich in diesem Fall so viele am Geschehen unbeteiligte Menschen zur Hilfe motiviert fühlten, ist wesentlich begründet in unserer ausgeprägten Empathiefähigkeit. Wir können emotional nachempfinden, was andere Menschen in Notlagen durchmachen müssen, wir leiden buchstäblich mit ihnen mit. Da auch Mitleid in gewissem Sinne Leid bedeutet, liegt es in unserem eigennützigen Interesse, es zu überwinden. Dies können wir tun, indem wir das Leid der Anderen entweder verdrängen (die Nachrichtensendung abschalten), oder aber indem wir (beispielsweise über Spenden oder Hilfsaktionen) etwas dazu beitragen, dass dieses Leid reduziert wird.
Evolutionäre Humanisten erkennen nicht nur an, dass Handeln aus Mitleid ein eigennütziges Verhaltensmuster darstellt, sie wissen auch, dass bereits die Fähigkeit, mitleiden zu können, ein Produkt eigennütziger evolutionärer Überlebensstrategien ist. Die stete Zunahme des Gehirnwachstums, die im Verlauf der hominiden Entwicklung beobachtet werden kann, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Träger komplexerer Gehirne wegen ihrer höheren sozialen Intelligenz Vorteile gegenüber einfacher strukturierten Artgenossen besaßen. Die Fähigkeit, die vielschichtigen Rollendifferenzierungen innerhalb einer sozialen Gruppe zu durchschauen und für sich nutzbar machen zu können, bedeutete einen entscheidenden Überlebensvorteil. Nur wer sich in die Bedürfnislagen seiner Artgenossen hineinversetzen konnte, wusste, wann er mit wem wie kooperieren musste, wen man gefahrlos übers Ohr hauen konnte und wen man besser umschmeicheln sollte, um seinen Zielen näher zu kommen. Das evolutionär gewachsene Empathievermögen war die Voraussetzung für erfolgreiches Lügen, Betrügen, Kooperieren und Intrigen-Spinnen und schuf – quasi als Nebenwirkung – die Basis für ein durch Mitleid (und Mitfreude!) motiviertes altruistisches Verhalten.
Ohne unsere Fähigkeit, mitleiden und uns mitunter auch mitfreuen zu können, wären wir nicht in der Lage, uns bei einem Spielfilm zu amüsieren, noch wäre menschliche Kultur überhaupt möglich. Insofern handelte Arthur Schopenhauer durchaus weitsichtig, als er das Phänomen des Mitleids ins Zentrum seiner Ethik rückte. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass unserem Empathievermögen deutliche Grenzen gesetzt sind:
• Erstens ist die unter Kleingruppenverhältnissen entstandene Empathiefähigkeit abhängig von konkreten Erfahrungen und daher nur schwerlich auf abstrakte Größenordnungen übertragbar. (Die vielen Hunderttausende von Kindern, die Jahr für Jahr an den Folgen von Unterernährung sterben, bleiben für uns eine abstrakte Zahl, die wir leicht verdrängen können; nicht so hingegen die Opfer der Flutkatastrophe von 2004, die über das Fernsehen gewissermaßen direkt in unsere Wohnzimmer gespült wurden. Durch die allgegenwärtigen Bilder wurden sie zu einem virtuellen Teil
unserer emotionalen Bezugsgruppe, was fast zwangsläufig eine hohe Anteilnahme und Hilfsbereitschaft auslöste.)
• Zweitens: Wenn unser Mitgefühl tatsächlich angesprochen wird, neigen wir dazu, unser Mitleid eher mittels symbolischer Gesten abzuarbeiten, anstatt wirkliche Reformen einzuleiten, die uns womöglich selbst ins Fleisch schneiden könnten (so könnte man die sog. „Entwicklungshilfe“ durchaus unter das Motto stellen: „Brot für die Welt – die Wurst bleibt aber hier!“).
• Drittens: Auch wenn das Empathievermögen ein universelles Erbe unserer biologischen Evolution ist (nur wenige Menschen, darunter viele Gewaltverbrecher, sind aufgrund hirnorganischer Schädigungen oder Anomalien nicht zur emotionalen Perspektivübernahme befähigt), kann es doch mithilfe von Ideologien zumindest partiell ausgeschaltet werden.
So gelang es der Nazipropaganda über die Darstellung von Juden als „Untermenschen“, „Ungeziefer“ oder „Giftpilze“, große Teile der
Deutschen so stark zu indoktrinieren, dass sie jegliches Mitgefühl gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe verloren.
Noch heute wird diese Strategie der Deindividuation(Entpersonalisierung) gerne angewandt, um Menschen durch die Ausschaltung ihres Empathievermögens „scharf“ zu machen. Es bestimmt nicht von ungefähr die Grundausbildung militärischer Eliteeinheiten, dass deren Mitglieder darauf trainiert werden, sowohl sich selber als auch den potentiellen Gegner nicht als Personen mit individuellen Träumen, Hoffnungen, Ängsten und Wünschen wahrzunehmen.
Und natürlich gehört es auch zu den wichtigsten Kniffen eines geschickten Diktators bzw. „geistigen Führers“, dass er seinen weltanschaulichen oder politischen Konkurrenten systematisch entmenschlicht.
Wer zu einem „heiligen Krieg“ oder einen „Kreuzzug gegen das Böse“ aufruft, der tut gut daran, die Gegner nicht als Menschen mit menschlichen und allzumenschlichen Eigenschaften zu schildern, sondern sie auf Merkmale wie „Ungläubige“ oder „eiskalte Terroristen“ zu reduzieren.
Schlucken die Untergebenen diese Botschaft, so lassen sie in der Konfrontation mit dem „Feind“ jedes Mitgefühl vermissen. Die sadistische Art, in der feindbildbeseelte amerikanische Soldaten unlängst ihre irakischen Gefangenen folterten, spricht hier eine deutliche Sprache. (Das Gleiche gilt selbstverständlich für die islamischen Gotteskrieger, die im Umgang mit ihren Geiseln und Opfern jegliches Mitgefühl vermissen lassen.)
Während eigennützig-altruistisches Verhalten schon im Tierreich beobachtet werden kann, ist die kulturelle / ideologische Überformung des Eigennutzes eine spezifisch menschliche Eigenschaft. Nur Menschen sind unter bestimmten Umständen dazu bereit, ihr Leben für eine „höhere Sache“ (ethische Überzeugung, politische Ideologie, Religion) aufs Spiel zu setzen.
Kein noch so phantasiebegabter Affe käme auf die Idee, für demokratischere Verhältnisse zu streiten, geschweige denn, dass er auf Bananen im Diesseits verzichten würde, weil er sich davon eine noch großartigere Belohnung im Jenseits erhoffte. Zwar kann die menschliche Kultur den biologisch vorgegebenen Eigennutz nicht überwinden, sie kann ihn aber doch in höchst unterschiedliche Erscheinungsformenpressen. Was wir persönlich als erstrebenswert ansehen, ist im höchsten Maße abhängig von kulturellen Vorgaben, von technischen Errungenschaften, Moden, Traditionen, Philosophien, Ideologien, Religionen usw. Anscheinend genügt es uns nicht, bloß in den Tag hinein zu leben, wir trachten danach, unserer Existenz einen „Sinn“ zu geben. Tragischerweise greifen wir dabei häufig auf Sinnrezepte zurück, die den Eigennutz in eine problematische Richtung lenken und daher weder dem Einzelnen noch der Allgemeinheit zum Vorteil gereichen.
https://www.alibri-buecher.de/docs/probe114.pdf