In England gibt es aber auch andere Stimmen (Ein Interview aus dem Jahr 2005)über welches man ja mal diskutieren könnte.Alexxxander schrieb im „Christlichen Forum“
Zum Nachdenken:
Die britische Zeitschrift " The economist" hat uns Deutsche kürzlich karikiert: ängstlich in einer Ecke geduckt, in die uns ein starker Arm mit dem Davidstern weist. Uns wird “Angst” und “Hysterie“ attestiert.
Bibel - Prophet Ezechiel (Ez 18,20): "Der Sohn darf nicht an der Schuld seines Vaters, und der Vater nicht an der Schuld seines Sohnes tragen"
"Kein Volk stellt sich so mutig der Vergangenheit"
Der britische Militärhistoriker Antony Beevor über den Umgang der Deutschen mit dem Krieg - und die Wirkung des Nazismus im Film
Die Welt: 60 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen - wird diese Geschichte nie zu "Geschichte", ferngerückt von uns?
Antony Beevor: Das Gegenteil ist der Fall. Wir sehen, wie diese Geschichte sich mit aktuellen Zuständen vermengt. 1945 war ja nicht nur das Ende des Zweiten Weltkrieges oder der Anfang des Kalten Krieges. Es war auch der Beginn jener Periode, in der alte nationale und ethnische Probleme gewissermaßen ins Tiefkühlfach der Geschichte verbannt wurden, jedenfalls für die Dauer des Kalten Krieges. Sie haben sich aber nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auf vielfältige Weise zurückgemeldet - kriegerisch auf dem Balkan, mit diplomatischen Spannungen etwa zwischen Deutschland und Tschechien.
Die Welt: Hat die nicht endende Unmittelbarkeit des Krieges, das Nicht-Historisch-Werden der Nazi-Ära - nicht etwas mit dem überwältigenden Material in Bild und Film zu tun?
Beevor: Ja, aber man muß unterscheiden. Da ist einmal das vorhandene filmische Material, das die Konzentration der Medien, vor allem des Fernsehens, auf dieses Thema wachhält. Leider gibt es aber eben auch die cineastische Wirkung des Nazismus. Die übt auf Filmemacher einen großen Reiz aus, selbst wenn es um Anti-Nazi-Filme geht. Im Blick auf die Jahre 1939 bis 1945 kann das unfreiwillig zu einer Art "Kriegspornographie" führen, ein Appeal vor allem auf bestimmte männliche Jugendliche, die von Machtkomplexen behaftet sind und sich irgendwie überflüssig vorkommen in Welt. Es ist dieses Image von Macht, wie die Nazis es so geschickt kultivierten, das selbst auf Anti-Nazi-Regisseure wie Spielberg und andere solche Faszination ausübt und immer neue Filme über diese Ära hervorbringt.
Dokumentarfilme hingegen verdanken sich dem Umstand, daß die Geschichtsschreibung sehr früh den 2. Weltkrieg als den bedeutsamsten Krieg der Geschichte schlechthin erfaßt hat - in Bezug auf seine Wirkung, seine Folgen, auf den tiefgreifenden Einschnitt, den er im Leben fast aller Menschen hinterlassen hat.
Die Welt: Wirkt das bis heute auch in den internationalen Beziehungen nach?
Beevor: Ja, zumindest in dem Sinne, daß sich Krieg und Nazizeit leicht ausbeuten lassen für populistische Zwecke. Deutsche Botschafter in London finden unablässig Grund zur Beschwerde über die Behandlung dieses Themas im britischen Fernsehen. Joschka Fischer fühlte sich unlängst sogar bemüßigt, zu behaupten, nur noch im britischen Fernsehen könne man lernen, wie der Stechschritt gehe. Der Minister unterschlug, wie viele hervorragende TV-Filme gerade in Deutschland über diese Zeit produziert wurden und werden. Man kann ja kaum das deutsche Fernsehen einschalten, ohne entsprechenden Themenstoffen zu begegnen.
Am Montag läuft bei Ihnen die neue dreiteilige Serie über Albert Speer an. Es ist also nicht nur Großbritannien, das sich so intensiv mit dem 2. Weltkrieg beschäftigt, auch wenn ich zugeben muß, daß es bei uns eine bestimmte Boulevardzeitungs-Kultur gibt, die einem die Schamröte ins Gesicht treiben kann.
Die Welt: Der Historiker sieht also zwei Arten des Umgangs mit dem Krieg vor sich: den "unschuldigen" - das Drama auf der Bühne Shakespeares, den Konflikt großer Mächte und Persönlichkeiten. Und den "pornographischen", der nur dem Kitzel und heimlichen Süchten oder Ressentiments dient.
Beevor: Ich kann das, was Sie zur quasi shakespeareschen Natur dieser Geschichte sagen, nur unterstreichen. Vergleichen Sie damit immer wieder unsere Gegenwart: Der ruhige Gang wohlfahrtsgeborgener Lebensläufe, von Sicherheitsauflagen am Arbeitsplatz bis zur Tendenz, alle Risiken aus dem modernen Leben zu tilgen. Dazu die Annehmlichkeit des politisch korrekten Milieus. Da sind die Menschen verständlicherweise fasziniert von einer geschichtlichen Epoche, wo der Einzelne weniger Kontrolle über sein Leben hatte, und wo man sich fragt, wie man selber mit soviel Unwägbarkeit fertig geworden wäre.
Wie hätte ich im Krieg moralisch, psychologisch, menschlich überlebt? Fragen gerade junge Menschen. Hätte ich die Kraft gehabt, mich zu weigern, einen Erschießungsbefehl an einem gefangenen Russen auszuführen? Das sind legitime Fragen geistiger Aufarbeitung. Wir hatten in Großbritannien vor einigen Jahren eine Debatte um unseren wichtigsten Literaturpreis, den Man-Booker-Preis, wo Kritiker bemängelten, warum denn all diese Romane, die von der Vergangenheit handelten, so sehr favorisiert würden. Wundert euch nicht, lautete damals die Antwort - diese Bücher handeln von Zeiten mit wirklichen moralische Konflikten um wahrhaft moralische Fragen.
Die Welt: 60 Jahre Abstand, und der Blickwinkel weitet sich. Er weitet sich in Deutschland auf eine ganz besondere Weise: Nach Jahrzehnten der Aufarbeitung der im deutschen Namen begangenen Verbrechen üben wir jetzt die Fähigkeit, auch über unser eigenes Erleiden im Krieg zu trauern, an die Qualen der Zivilbevölkerung zu erinnern, ob beim Vormarsch der Russen oder im angloamerikanischen Feuersturm aus der Luft. Ist diese Akzenterweiterung in Ihren Augen eine gesunde Entwicklung?
Beevor: Als erstes muß man festhalten, daß kein Volk so mutig wie das deutsche sich dem Schrecken seiner jüngeren Vergangenheit gestellt hat. Dem füge ich sogleich hinzu, daß die Vorstellung einer Kollektivschuld absolut inakzeptabel ist. Ja, es gibt überhaupt keinen Grund, warum sich irgendein Deutscher, der mit dem Krieg nichts zu tun hatte, auch nur eine Spur schuldig fühlen sollte.
Eigene Leiden in der Erinnerung zu berücksichtigen, halte ich für einen Prozeß der Normalisierung. Aber Vorsicht: Diese notwendige Nacherinnerung kann und darf nicht dazu führen, im Opferstatus - und viele Deutsche waren natürlich auch Opfer Hitlers - eine Art von Äquivalenz herzustellen zwischen den systematischen Verbrechen der Nazis und dem Leid, das den Deutschen zugefügt wurde im Gefolge eines Krieges, den ihre Regierung vom Zaun gebrochen hatte. Begriffe wie "der Holocaust aus der Luft" korrumpieren geradezu das Gerüst der moralischen Wertungen und damit auch die Moral der Erinnerung selber.
Die Welt: Haben Sie in der deutschen Debatte um die Bombardierung Dresdens ähnliche Stimmen herausgehört?
Beevor: Nein, ich fand den Gesamttenor der Auseinandersetzung geradezu extrem balanciert und fair. In einer Radiodiskussion, die ich mit Dresdner Bürgern hatte, empfand ich die jüngeren Teilnehmer als besonders nüchtern und ausgewogen in ihren Beiträgen. Es waren eher die älteren Semester, die eben seit längerem schon mit der Aufarbeitung der Schuldfrage vertraut sind, die ihre Frustration über immer das gleiche Thema zum Ausdruck brachten.
Natürlich kann auch ein jugendlicher Arbeitsloser in Sachsen seinen Blitzableiter suchen, und dann mag es mit der Ausgewogenheit seiner historischen Sicht, mit seiner Fähigkeit, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten, schnell vorbei sein.
Die Welt: Würden Sie im Falle der Vergewaltigungsorgien russischer Regimenter oder der Bombardierung deutscher Städte von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" sprechen?
Beevor: Es fiele mir sehr schwer, diesen Begriff auf die Luftangriffe anzuwenden, wenn man sich allein vor Augen hält, daß die Initialzündung für Arthur Harris' Strategie die 92 Tage ununterbrochener deutscher Bombardierung Londons gewesen ist. Übrigens fielen dann noch einmal unmittelbar vor Dresden mehr V2-Bomben auf London als je zuvor. Gewiß, da war auch ein Element von Rache im Spiel, das kann man nicht leugnen. Aber zugleich war für die Planer der Bombenkrieg die wichtigste "zweite Front", die England aufbauen konnte. Dadurch wurde die deutsche Seite gezwungen, 80 Prozent der Kampfgeschwader und die entsprechenden Luftabwehrbatterien von der russischen Front abzuziehen, was einen enormen Beitrag leistete zum schnelleren Vormarsch der Roten Armee in den Jahren 1943 und 1944.
Die Welt: Und wie beurteilen Sie die russischen Vergehen?
Beevor: In Einzelfällen, könnte man von Verbrechen gegen den Menschlichkeit sprechen. Das Problem ist nur, wie will man nachweisen, daß dies einer bewußten Politik entsprang, im Sinne des Arguments, das manche Historiker vertreten: Daß Vergewaltigungen ein bewußter Akt von Kriegführung sein können. Wenn man die russischen Archive konsultiert, entdeckt man doch ziemlich gemischte Reaktionen auf diese Nachrichten von der Front. Stalin hielt Massenvergewaltigungen für "lustig", etliche Generäle dagegen, etwa Rokossowski, waren abgestoßen und versuchten alles, die Praxis zu unterbinden. Andere wiederum scherten sich einen Deut darum oder neigten Stalin zu nach dem Motto "Laß den Jungens doch ihren Spaß".
Aber es war eben nicht eigens als Strategie ausgerufen, sondern entsprang einerseits dem schockierenden Mangel an Disziplin in der Roten Armee, anderseits bestimmten Propagandaparolen von 1942 ff., die zur Rache aufriefen. Es ist aber ein Faktum, daß sowjetische Kommissare sehr beschämt waren von dem Resultat ihrer Haßaufrufe. Denn eigentlich hatten sie bezweckt, es solle sich unter den Soldaten solch ein Horror und Ekel vor den Deutschen verbreiten, daß sie eine deutsche Frau nicht einmal würden anrühren wollen. Man kann also nicht sagen, daß Vergewaltigungen eine offiziell sanktionierte Kriegsführungspolitik waren, womit auch der Beweis eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, in seiner strengen Definition, schwer zu führen wäre.
Die Welt: Historiker und Soziologen haben oft darauf hingewiesen, daß das Gefühl, Opfer zu sein, so etwas wie eine Erkennungsmelodie sei in der modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte.Hören Sie diesen Grundton auch heraus bei der gegenwärtigen deutschen Anti-Kapitalismus-Debatte? ?
Beevor: Können Sie Gedanken lesen? Ich verfolge diese Debatte, wie viele meiner Freunde, mit steigender Besorgnis. Wieder einmal die alte Verführung, Ursache und Wirkung miteinander zu vermengen. Die Ursache liegt im Innern, in dem Versagen, sich rechtzeitig für die Zukunft in Stellung gebracht zu haben. Sie liegt nicht im Einwirken finsterer Mächte, die einen bedrohen, sei es der Kapitalismus, sei es Osteuropa mit seiner "unfairen" Konkurrenz.
Ich sprach neulich mit einem Mitglied des Oberhauses, dessen Namen ich aus Rücksicht auf ihn nicht nennen will, über genau dieses Thema, und er machte eine grausame, aber völlig korrekte Bemerkung: "Ist es nicht komisch, wie der neue Protektionismus in Deutschland sich gegen den Osten wendet? Aber sieh nur, wohin die ganzen Jobs hingehen - in den Osten." Das Problem, dies Opfergefühl, findet sich mehr und mehr auch in Frankreich, nach der Devise: Diese Angelsachsen mit ihrer Marktphilosophie werden uns alle zerstören. Sie wissen doch, welche Parole vor 75 Jahren in Deutschland wucherte. Sucht man in Europa wieder Prügelknaben?
Die Welt: Ein letztes Wort zum Film "Der Untergang". Zwei angesehene britische Holocaust-Forscher, David Cesarini und Peter Longerich, kritisierten den Streifen als Ausflucht vor den Verbrechen der Nazi-Zeit, verbrämt mit der Miene des leidtragenden deutschen Volkes. Haben Sie das auch so gesehen?
Beevor: Nein, ich finde sogar bemerkenswert, daß so ein Film heute in Deutschland möglich ist, und halte diese perspektivische Erweiterung für einen wirklichen Fortschritt. Vor zehn Jahren wäre "Der Untergang" noch völlig undenkbar gewesen. Ich bleibe aber auch hier bei meiner Grundthese: Alles Leiden gehört zur Geschichte. Man muß sich nur vor falscher Kausalität hüten, vor dem Verwischen von Ursache und Wirkung.
Antony Beevor ist Militärhistoriker und ehemaliger britischer Berufsoffizier. Er wurde 1946 geboren und lebt in London. Vor gut zwei Jahren erschien sein viel beachtetes Buch "Berlin 1945: Das Ende".
Das Gespräch mit Antony Beevor führte Thomas Kielinger.
Artikel erschienen am Sam, 7. Mai 2005
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