Werner Heisenberg über „Das Naturbild Goethes und die technisch-naturwissenschaftliche Welt“
Die moderne Naturwissenschaft vermittelt Erkenntnisse, deren Richtigkeit im ganzen nicht bezweifelt werden kann; und die aus ihr entspringende Technik gestattet, diese Erkenntnisse zur Verwirklichung auch weitgesteckter Ziele einzusetzen. Aber ob der so erreichte Fortschritt wertvoll sei, wird damit überhaupt nicht entschieden. Das entscheidet sich erst mit den Wertvorstellungen, von denen sich die Menschen beim Setzen der Ziele leiten lassen.
Der entscheidende Einwand Goethes gegen die seit Newton angewandte Methodik der Naturwissenschaft richtet sich also wohl gegen das Auseinanderfallen der Begriffe »Richtigkeit« und »Wahrheit« in dieser Methodik. Wahrheit war für Goethe vom Wertbegriff nicht zu trennen. Das »unum, bonum, verum«, das »Eine, Gute, Wahre«, war für ihn wie für die alten Philosophen der einzig mögliche Kompass, nach dem die Menschheit sich beim Suchen ihres Weges durch die Jahrhunderte richten konnte. Eine Wissenschaft aber, die nur noch richtig ist, in der sich die Begriffe »Richtigkeit« und »Wahrheit« getrennt haben, in der also die göttliche Ordnung nicht mehr von selbst die Richtung bestimmt, ist zu sehr gefährdet, sie ist, um wieder an Goethes Faust zu denken, dem Zugriff des Teufels ausgesetzt. Daher wollte Goethe sie nicht akzeptieren.
An dieser Stelle fragt Heisenberg:Man wird hier noch einmal fragen müssen, was denn eigentlich das Charakteristische dieser Goetheschen Naturbetrachtung sei, wodurch sich seine Art, die Natur anzuschauen, von der Newtons und seiner Nachfolger unterschieden habe. An dieser Stelle wird vor allem hervorgehoben, dass Goethes Naturbetrachtung eben vom Menschen ausgehe, dass in ihr der Mensch und sein unmittelbares Naturerlebnis den Mittelpunkt bilde, von dem aus sich die Erscheinungen in eine sinnvolle Ordnung fügen. Eine solche Formulierung ist zwar richtig, und sie macht den grossen Unterschied zwischen der Goetheschen Naturbetrachtung und der Newtonschen besonders deutlich. Aber sie übersieht doch einen ganz wesentlichen Punkt, dass nämlich nach Goethes Überzeugung dem Menschen in der Natur die göttliche Ordnung sichtbar gegenübertritt. Nicht das Naturerlebnis des einzelnen Menschen, sosehr es ihn als jungen Menschen erfüllt hatte, war dem älteren Goethe wichtig, sondern die göttliche Ordnung, die in diesem Erlebnis erkennbar wird. Es ist für Goethe nicht nur dichterische Metapher, wenn etwa in dem Gedicht »Vermächtnis altpersischen Glaubens« der Gläubige durch den Anblick der über dem Gebirge aufgehenden Sonne dazu bewegt wird, »Gott auf seinem Thron zu erkennen, ihn den Herrn des Lebensquells zu nennen, jenes hohen Anblicks wert zu handeln und in seinem Lichte fortzuwandeln.« Diesem Inhalt des Naturerlebnisses muss sich, so glaubt Goethe, auch die wissenschaftliche Methode anpassen, und so ist das Suchen nach dem Urphänomen aufzufassen als das Forschen nach jenen der Erscheinung zugrunde liegenden, von Gott gesetzten Strukturen, die nicht nur mit dem Verstande konstruiert, sondern unmittelbar geschaut, erlebt, empfunden werden können. »Ein Urphänomen«, erklärt Goethe, »ist nicht einem Grundsatz gleichzusetzen, aus dem sich mannigfaltige Folgen ergeben, sondern anzusehen als eine Grunderscheinung, innerhalb derer das Mannigfaltige anzuschauen ist.
Und weiter unten:Mag es nicht sein, dass gerade das, was Goethe als die göttliche Ordnung der Naturerscheinung empfindet, erst in der höheren Abstraktionsstufe in voller Klarheit vor uns steht? Kann an dieser Stelle nicht vielleicht die moderne Naturwissenschaft Antworten geben, die doch allen Goetheschen Wertforderungen standhalten können?
[Hervorhebung von mir]Aber kehren wir zu der Frage zurück, ob die Erkenntnis, die Goethe in seiner Naturwissenschaft gesucht hat, nämlich die Erkenntnis der letzten von ihm als göttlich empfundenen Gestaltungskräfte der Natur, aus der zunächst nur »richtigen« modernen Naturwissenschaft so vollständig verschwunden ist. »Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält, schau alle Wirkungskraft und Samen und tu' nicht mehr in Worten kramen», so hatte die Forderung gelautet.
Die einfachsten Lösungen dieser mathematischen Gleichung repräsentieren die verschiedenen Elementarteilchen, die genau in demselben Sinne Grundformen der Natur sind, wie Plato die regulären Körper der Mathematik, Würfel, Tetraeder usw., als die Grundformen der Natur aufgefasst hat. Auch sie sind, um wieder zu dem Streitgespräch zwischen Schiller und Goethe zurückzukehren, so wie Goethes Urpflanze »Ideen«, auch wenn sie nicht mit gewöhnlichen Augen gesehen werden können. Ob sie im Goetheschen Sinne angeschaut werden können, das hängt wohl einfach davon ab, mit welchen Erkenntnisorganen wir der Natur gegenübertreten. Dass diese Grundstrukturen unmittelbar mit der grossen Ordnung der Welt im ganzen zusammenhängen, kann wohl kaum bestritten werden. Es bleibt aber uns überlassen, ob wir nur den einen engen, rational fassbaren Ausschnitt aus diesem grossen Zusammenhang ergreifen wollen.
Werfen wir noch einmal den Blick zurück auf die historische Entwicklung. In der Naturwissenschaft, wie in der Kunst, ist die Welt seit Goethe den Weg gegangen, vor dem Goethe gewarnt hat, den er für zu gefährlich hielt. Die Kunst hat sich von der unmittelbaren Wirklichkeit ins Innere der menschlichen Seele zurückgezogen, die Naturwissenschaft hat den Schritt in die Abstraktion getan, hat die riesige Weite der modernen Technik gewonnen
Mehr und ausführlich:Gleichzeitig sind die Gefahren so bedrohlich geworden, wie Goethe es vorausgesehen hat. Wir denken etwa an die Entseelung, die Entpersönlichung der Arbeit, an das Absurde der modernen Waffen oder an die Flucht in den Wahn, der die Form einer politischen Bewegung angenommen hat. Der Teufel ist ein mächtiger Herr. Aber der lichte Bereich, den Goethe überall durch die Natur hindurch erkennen konnte, ist auch in der modernen Naturwissenschaft sichtbar geworden, dort wo sie von der grossen einheitlichen Ordnung der Welt Kunde gibt. Wir werden von Goethe auch heute noch lernen können, dass wir nicht zugunsten des einen Organs, der rationalen Analyse, alle andern verkümmern lassen dürfen; dass es vielmehr darauf ankommt, mit allen Organen, die uns gegeben sind, die Wirklichkeit zu ergreifen und sich darauf zu verlassen, dass diese Wirklichkeit dann auch das Wesentliche, das »Eine, Gute, Wahre« spiegelt. Hoffen wir, dass dies der Zukunft besser gelingt, als es unserer Zeit, als es meiner Generation gelungen ist.
http://www.gedichte.vu/heisenberg.html
Ich habe es hier auf den Seiten 394-409 zuerst gefunden:

Dort wird als Quelle auf den Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft Band 29 Seite 27-42 verwiesen.